6 April 2025

Der Schulweg – ein Blick in den Rucksack der Kinder


Jeden Morgen spaziere ich mit meinem Hund den Schulweg entlang. Es ist eindrücklich zu beobachten, wie unterschiedlich Kinder ihren Weg zur Schule gestalten. Manche hüpfen fröhlich mit einer Freundin dem Schulhaus entgegen. Andere tragen schon in den frühen Morgenstunden ihre ersten Konflikte aus, müssen sich wehren, flüchten – oder ihre Mütze aus dem Bach fischen, in den sie jemand geworfen hat.


Wenn man all das aus einer beobachtenden Perspektive mitbekommt, wird deutlich:

Jedes Kind kommt mit einem Rucksack voller Erfahrungen zur Schule.

Und dieser Schulweg ist dabei nur ein kleiner Ausschnitt aus all den Erlebnissen, die in diesem Rucksack liegen.


Vielleicht hat das Kind am selben Morgen mitbekommen, wie sich die Eltern gestritten haben.

Vielleicht ist der Vater gerade gestern ausgezogen.

Vielleicht ist die Mutter krank oder alkoholkrank.

Vielleicht musste das Kind schon früh in seinem Leben operiert werden oder hat die ersten Lebenswochen im Brutkasten verbracht…

Jedes Kind hat seine ganz eigene Geschichte.

Und genau deshalb braucht jedes Kind – einfach so, ohne Bedingungen – Verständnis. Einen Vorschuss an Mitgefühl.

Es braucht einen sicheren Hafen.

Ein Gegenüber, das es sieht, hört und ernst nimmt.

Ein Mensch, bei dem es willkommen ist – genauso, wie es ist.

Zuhause. In der KiTa. In der Schule.

Überall dort, wo Kinder leben und lernen, brauchen sie diesen sicheren Hafen.

(Und übrigens – wir Erwachsenen auch.)

Dafür braucht es Erwachsene, die über Bindungskompetenz verfügen: Eltern, FAGEs, KiTa-Betreuerinnen, Spielgruppenleiterinnen, Lehrpersonen, Mütter- und Väterberaterinnen, Sozialpädagoginnen, Therapeutinnen…

Denn sichere Bindung ist die beste Voraussetzung für eine gesunde emotionale, soziale und kognitive Entwicklung.

Ganz gleich, was ein Kind in seinem Rucksack trägt – diese Erfahrungen beeinflussen sein Handeln, Fühlen und Denken.


Hat ein Kind in seiner Familie viele sichere Bindungserfahrungen gemacht, dann bringt es ein Urvertrauen mit:

Es kann sich selbst und anderen Menschen vertrauen. Es fühlt sich geliebt und richtig, so wie es ist. Es hat Mut zur Neugier – und das Vertrauen, Herausforderungen zu meistern.

Kinder mit einem sicheren Bindungsmuster verfügen über eine gute Resilienz.


Trägt ein Kind hingegen traumatische Erlebnisse im Rucksack, hat es vielleicht keine sichere Bindung in seinen ersten Lebensjahren erfahren. Dann fehlt ihm dieses Urvertrauen – in sich selbst und in andere.

Das Kind ist innerlich gestresst, verunsichert, vielleicht ängstlich. Es zeigt Verhalten, das aus diesen Erfahrungen heraus verständlich wird.

Solche Kinder haben es schwer, sich selbst zu regulieren. Ihr Nervensystem ist im Dauerstress – und in diesem Zustand ist explorieren und lernen kaum möglich.


Ein Kind, das auf dem Schulweg bereits Konflikte austragen musste, kommt angespannt im Klassenzimmer an.

Es wird grosse Mühe haben, sich zu konzentrieren.

Deshalb brauchen Kinder in der Schule ein sicheres Lernumfeld – mit einer Lehrperson, auf die sie sich verlassen können.

Eine Bezugsperson, der sie vertrauen.

Denn erst wenn ein Kind seinen inneren Stress ablegen kann, sich sicher und angenommen fühlt, erst dann kann es sich entfalten, lernen, entdecken.