Neue Autorität - der Wolf im Schafspelz
Vor rund sechs Jahren wurde ich erstmals mit dem Konzept der Neuen Autorität nach Haim Omer konfrontiert. Damals wurden wir Eltern zu einem Elternabend eingeladen, an dem die Schulsozialarbeiterin das Konzept vorstellte. Ziel dieses Abends war es, dass wir Eltern gemeinsam einen Brief an die Kinder der Klasse verfassen, in dem wir unsere Erwartungen formulieren sollten. Die meisten Eltern engagierten sich bereitwillig und verfassten entsprechende Erwartungen. Mir jedoch widerstrebte diese einseitige, fordernde Haltung. Ich war der Meinung, dass auch die Kinder die Möglichkeit erhalten sollten, ihre Bedürfnisse zu äußern. Daher schlug ich vor, statt Erwartungen eher Wünsche zu formulieren, und fragte nach, wann die Kinder Gelegenheit bekämen, ihre Sichtweise darzulegen. Mein Vorschlag stieß jedoch auf einhellige Ablehnung seitens der anderen Eltern und der Lehrerschaft.
Seither begegne ich in meinen Familientherapien, aber auch im privaten Umfeld, immer mehr Eltern, die in der Schule mit der Neuen Autorität konfrontiert werden: Eltern, deren Kinder öffentlich bloßgestellt wurden, Kinder, die den Schulbesuch verweigern, und Eltern, die sich mit ihrer beziehungsorientierten Erziehung von der Schule nicht verstanden und ernst genommen fühlen.
Eine Mutter brachte ihre Ohnmacht kürzlich sehr treffend auf den Punkt: "Das, was Kinder eigenständig tun könnten, dürfen sie in der Schule nicht. Und dort, wo sie Unterstützung brauchen, bekommen sie diese nicht, weil sie es können müssen."
Im vergangenen Jahr habe ich mich intensiv mit dem Konzept der Neuen AUtorität auseinandergesetzt, weil ich verstehen wollte, wie es entstanden ist und warum es trotz seiner äußerst fragwürdigen Ansätze an immer mehr Schulen angewendet wird. In diesem Blog teile ich meine Erkenntnisse und erkläre, warum die Neue Autorität für mich ein Wolf im Schafspelz ist.
Entstehung der "Neuen Autorität"
Die Neue Autorität wurde erstmals 1980 von Haim Omer veröffentlicht. In den 1970er-Jahren sahen sich Schulen und Betriebe mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert: Kinder und junge Erwachsene, die im Zuge der antiautoritären Erziehung aufgewachsen waren, zeigten oft ein Verhalten, das bei Lehrpersonen und Eltern zu Ohnmachtsgefühlen führte. Eine Rückkehr zur autoritären Erziehung war jedoch ausgeschlossen. Zu viele Erwachsene hatten selbst negative Erfahrungen mit autoritären Strukturen gemacht, und zudem war diese Erziehungsform mit den totalitären Systemen des Nationalsozialismus verknüpft.
Die antiautoritäre Erziehung, die als Gegenbewegung in den 1960er-Jahren entstand und ihren Höhepunkt 1968 erreichte, brachte zwar wichtige Prinzipien wie Freiheit und Mitbestimmung hervor, führte jedoch auch zu Orientierungsverlust bei Kindern. Ohne klare Strukturen waren viele Kinder überfordert, und ihr soziales Verhalten war häufig problematisch. Daher suchte man nach einer Erziehungsform, die einerseits wieder mehr Regeln und Strukturen ermöglichte, ohne zur alten Autorität zurückzukehren.
Die Neue Autorität schien eine passende Antwort zu sein. Sie versprach eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrpersonen und betonte die Beziehung zu den Kindern. Allerdings entfiel dabei das Mitspracherecht der Kinder nahezu vollständig.
Warum die Neue Autorität nicht mehr zeitgemäß ist
Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung berücksichtigt die Neue Autorität weder aktuelle Erkenntnisse aus der Bindungs-, Trauma- noch der Hirnforschung. Dennoch wird das Konzept an immer mehr Schulen in der Schweiz eingeführt.
Die zunehmenden Herausforderungen für Lehrpersonen – etwa durch herausforderndes Verhalten von Kindern oder wachsende Anforderungen – führen dazu, dass die Neue Autorität als Lösung erscheint. Allerdings sind sich viele Lehrpersonen nicht bewusst, wie stark dieses Konzept in autoritären Strukturen verankert ist und welche Risiken es birgt.
Mit dem Slogan "Stärke statt Macht" vermittelt Haim Omer den Eindruck einer sanften und unterstützenden Herangehensweise. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Neue Autorität ihrem Namen gerecht wird: Sie ist autoritär.
Der Wolf im Schafspelz
Die Neue Autorität gibt vor, den Fokus auf die Beziehung zu legen und durch Präsenz zu stärken. Doch die Umsetzung ist fragwürdig und widersprüchlich. Ein Beispiel aus dem Buch "Raus aus der Ohnmacht":
"Lehrkräfte, die [...] ihre Schülerinnen erwarten und beim Eintreten zum neuen Schuljahr begrüßen, vermitteln die Botschaft: 'Willkommen in meiner Klasse!' Indem die Lehrperson die Sitzordnung bestimmt, setzt sie ein erstes Signal dafür, wer in diesem Zimmer die Führung innehat." (S. 44)
Das Buch plädiert dafür, das Verhalten von Kindern öffentlich zu machen, um sie zu disziplinieren: "Je mehr Personen von einem unerwünschten Verhalten wissen, desto mehr gemeinsame Präsenz entsteht, und entsprechend geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das unerwünschte Verhalten des Kindes wieder auftritt." (S. 35)
Gleichzeitig wird jedoch davon abgeraten, die Kritik an Lehrpersonen öffentlich zu äußern, da dies die Lehrkraft "in die Enge treiben" würde (S. 62). Diese Doppelmoral offenbart eine klare Hierarchie: Kinder sollen öffentlich zur Verantwortung gezogen werden, Lehrpersonen jedoch geschützt bleiben.
Ein Verrat an der Bindung
Eltern werden dazu angehalten, gemeinsam mit Lehrpersonen eine Front gegen ihr Kind zu bilden und es bewusst in eine isolierte Position zu drängen:
"Einigen Eltern macht es Mühe, sich so offensichtlich gegen das eigene Kind zu positionieren. [...] Eltern tendieren instinktiv dazu, dem Kind entschuldigend zuzulächeln oder es zu trösten. Das wäre der Botschaft eines gemeinsamen, entschlossenen Handelns abträglich." (S. 91ff)
Dies widerspricht sämtlichen Erkenntnissen aus der Bindungs- und Traumaforschung, wonach Kinder für eine gesunde Entwicklung sichere Bindungserfahrungen mit ihren Bezugspersonen benötigen. Die Neue Autorität hingegen fordert Eltern auf, sich gegen ihr eigenes Kind zu stellen – ein tiefgreifender Verrat an der Eltern-Kind-Bindung.
Fazit
Die Neue Autorität wurde als Reaktion auf die Ohnmacht der 1980er-Jahre entwickelt und zielt in erster Linie darauf ab, die Autorität von Lehrpersonen zu stärken. Aus heutiger Sicht und im Licht aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse ist sie jedoch nicht mehr zeitgemäß.
Viele Eltern erziehen ihre Kinder inzwischen bindungs- und beziehungsorientiert. Wenn diese Kinder in der Schule mit autoritären Konzepten konfrontiert werden, führt dies zwangsläufig zu Spannungen – und verstärkt die Ohnmachtsgefühle bei Lehrpersonen, Eltern und Kindern gleichermaßen.
Deshalb lade ich Schulleitungen und Lehrpersonen ein, die Neue Autorität kritisch zu hinterfragen und zeitgemäße Konzepte wie die BiKO®-Pädagogik in Betracht zu ziehen.
Möchtest du mehr über die BiKO®-Pädagogik erfahren? Ich bin gerne bereit, diese an deiner Schule kostenlos vorzustellen und zu zeigen, wie sie das Schulklima nachhaltig verbessern und Lehrpersonen wieder Freude an ihrer Arbeit ermöglichen kann.